Die Autobiographie als Gesamtkunstwerk

von Dr. Ralph Schippan

„Es ist nicht ein Zug, der nicht aus meinem Gedächtnis käme; dieses Mal ist die Mnemosyne meine Muse“.

Dieses Zitat stammt von Jean Paul (1763-1825) und bildet den Einstieg in ein mehrbändiges Werk, das am Ende seines Schaffens steht, und in dem er sich rückblickend mit seinem eigenen Leben auseinandersetzt. Zu diesem Werk, für das Jean Paul den Titel Selberlebensbeschreibung erfindet, lässt sich der Dichter nicht wie sonst durch Kalliope, die Muse der epischen Dichtkunst, inspirieren, sondern bei dieser Thematik braucht er besondere Hilfe: nämlich die von Mnemosyne, der Mutter aller olympischen Musen. Ein eindrucksvoller Hinweis darauf, dass eine Autographie mehr ist als ein reiner Text, vielmehr ist sie eine Art “Gesamtkunstwerk”.

In Abgrenzung zu einer von fremder Hand verfassten Lebensbeschreibung  ist eine Autobiographie hinsichtlich ihrer literarischen Gattung eine „retrospektive Ich-Erzählung in Prosa, die eine individuelle Lebensgeschichte einer tatsächlichen Person vor dem Hintergrund des jeweiligen Zeitgeschehens behandelt“ (Georg Misch) . Autor, Erzähler und Hauptfigur sind identisch.

Eine Autobiographie unterscheidet sich einerseits darin von einer historischen Abhandlung, dass bedingt durch das subjektiv gefärbte Erinnerungsvermögen des Autors die Zuverlässigkeit bei der Abbildung der Wirklichkeit nicht verbrieft ist. Von einem Roman unterscheidet sich die Autobiographie andererseits dadurch, dass die Handlung eben nicht in einer fiktiven Welt liegt sondern in der Ich-Welt des Schreibers. Der Vorgang des Erinnerns und die damit einhergehende – mal bewusste, mal unbewusste -Bewertung der Eigenerlebnisse spielen also eine wichtige Rolle.

Augustinus´ Confessiones sind das erste literaturhistorische Beispiel für eine kontinuierliche Darstellung eines Lebenszusammenhangs gepaart mit der Reflexion des Schreibenden auf das eigene Ich.  Augustinus beschreibt sein eigenes Erleben:

„Als […] mein Herz mein ganzes Elend schauen ließ, brach es aus in mir, wie ein nie erfahrener Sturm und löste sich auf in einem Strom von Thränen. […] Und siehe, da höre ich eine Stimme vom benachbarten Hause her; sie klang wie die Stimme eines singenden Knaben oder Mägdleins, und wiederholte oft die Worte: »Nimm und lies!« […]

 

Der Verfasser einer Autobiographie ist zwar bemüht, alles so wiederzugeben, „wie es wirklich war“. Er hat also einen hohen Anspruch an die Authentizität der Berichterstattung. Allerdings ist unser Gedächtnis kein Massenspeicher, in dem alle Ereignisse unseres Lebens genau abgelegt und jederzeit abrufbar sind. Vielmehr verhilft uns unser Gedächtnis auf heilsame Weise zu einer „natürlichen Zensur“: wir vergessen Unangenehmes, Belastendes, und zwar sehr viel eher als die positiven Geschehnisse. Die Wahrheit, die in einer Autobiographie beschrieben werden soll, liegt also immer „im Auge des Verfassers“.  Die objektiv unabänderliche Vergangenheit wird im Prozess der Erinnerung dauernd bearbeitet und den Wünschen der sich erinnernden Person entsprechend zurechtgerückt. Häufig lenken gar Illusionen von der Erlebniswirklichkeit ab. Das, was dann in einer autobiographischen Abhandlung als die eigene Wahrheit beschrieben wird, hat also stets eine fiktive Komponente. Außerdem führt das defizitäre Erinnerungsvermögen dazu, dass das Gedächtnis leicht den Bezug zu denjenigen Gefühlen verliert, die das Erlebnis selbst hervorgebracht haben. Deswegen kann es manchmal hilfreich sein, denjenigen Ort aufzusuchen, an dem das Ereignis stattgefunden hat, um die emotionale Erinnerung aufzufrischen.

Das Typische, aber auch der besondere Reiz der literarischen Gattung Autobiographie liegt also darin, dass sich Fiktives und historisch verbriefte Wahrheit nicht gegenseitig ausschließen sondern ergänzen. Anders gesagt, die subjektive Wahrheit, die der Autobiographie-Verfasser ausdrücken will, wird erst mittels der poetischen Komponente offenkundig. Georg Misch:

„Das Wahrste und Wirklichste einer Autobiographie ist der Geist, der über den Erinnerungen schwebt“

 

In fast jedem Kunstbereich begegnet uns Autobiographisches, zumindest in Fragmenten. Ohne den „Impetus“ des Selbsterlebten wäre ein Kunstwerk, sei es ein literarisches oder eines der Bildenden Kunst oder der Musik, überhaupt nicht zustande gekommen. So tragen Goethes Briefroman Werthers Leiden, Karl Philipp Moritz` Anton Reiser, Prousts Auf der Suche nach der verlorenen Zeit, ebenso autobiographische Züge wie Skulpturen von Käthe Kollwitz. Richard Strauß bezeichnet seine Komposition Ein Heldenleben als seine persönliche »Eroica«, und auch für Robert Schumann und Gustav Mahler waren viele Kompositionen ein Mittel, Krisensituationen und Schicksalsschläge ihres Lebens zu verarbeiten.

Friedrich Schlegel, äußert sich in der von ihm und seinem Bruder August Wilhelm herausgegebenen Zeitschrift Athenäum in einer provokanten Weise darüber, von welchem Personenkreis bzw. mit welchen Motiven Autobiographien geschrieben werden:

  • “Von Nervenkranken, die immer an ihr Ich gebannt sind”
  • “Von einer derben künstlerischen oder abenteuerlichen Eigenliebe”
  • “Von geborenen Geschichtsschreibern, die sich selbst nur ein Stoff historischer Kunst sind”
  • “Von sorglichen Gemütern, die vor ihrem Tode noch das kleinste Stäubchen in Ordnung bringen möchten und sich selbst nicht ohne Erläuterungen aus der Welt gehen lassen können”
  • “Von Autopseusten (Selbstbetrügern).“

Nach dem Leserkreis sind Autobiographien für den privaten Bereich von solchen unterscheiden, die sich bewusst an die Öffentlichkeit richten. Zur ersten Gruppe gehören diejenigen Schriften, die – vielleicht anlässlich eines besonderen Ereignisses, z.B. eines anstehenden Geburtstages – für den Familien- oder Freundeskreis geschaffen werden. Autobiographien von Literaten gehören ebenso wie die Memoiren von Politikern in den für die Öffentlichkeit bestimmten Bereich. Sicher spielt das Bedürfnis nach Selbstdarstellung häufig eine große Rolle, denn schon Nietzsche wusste:

“Die Menschen drängen sich zum Lichte, nicht um besser zu sehen, sondern um besser zu glänzen”

 

Autobiographien finden zum einen so viele und interessierte Leser, weil in ihnen in Einblick in realiter gelebtes Leben vermittelt wird und hieraus auch eine Modellfunktion für das eigene Leben abgeleitet werden kann. Aber noch ein anderer Aspekt ist mindestens genauso erheblich, nämlich die Neugier darauf,  durch welche ästhetischen Stilmittel  (Schrifttype, Papier, Einband, Illustrationen, Buchschmuck) es der Autor vermag, der Schilderung seines individuellen Lebens die ganz besondere Handschrift zu verleihen? Durch die Lückenhaftigkeit des menschlichen Gedächtnisses wird nämlich ein produktiver Spielraum für die Phantasie gebildet. Die Autobiographie wird auf diesem Weg zum Gesamtkunstwerk als Abbild des Lebens, wie es vom Autor mit seiner Handschrift vermittelt wird, um den „Geist, der über den Lebenserinnerungen schwebt“ zu vermitteln.

Lesen Sie hier den kompletten Aufsatz:

Ralph Schippan zum Thema Autobiographie 26.3.2014