So beginnt der Roman:
“Oscár Lenz war zugleich am Ende seiner Kräfte und am Ziel seiner Träume. Gerade hatte er nach einem Langstreckenflug und einer mehrstündigen Autofahrt die Lounge des O’Hara’s Rainforest Retreat im Lamington Nationalpark nahe der Grenze zwischen Queensland und New South Wales erreicht. Schon beim Einchecken spürte er die freundliche Atmosphäre dieser Lodge. Nun war er dabei, sich mit seinem Rollkoffer in Richtung des für ihn vorgebuchten Zimmers zu begeben.
Noch wenige Schritte und alles wird gut, dachte er. Als er aus dem Aufzug stieg, stach ihm der hochflorige orangefarbene Teppich in die Augen, der auf den rustikalen Stil des Hauses abgestimmt war. Für seinen Koffer machte das die Sache nicht leicht, denn immer wieder musste er mühsam dessen Rollen gegen den Willen des Teppichs korrigieren. Hinter der nächsten Ecke müsste sein Zimmer sein, vermutete er, als er einen ihm seltsam vertrauten Duft bemerkte.
Nach der Biegung stieß er fast mit der Trägerin des Parfums zusammen, die gerade ebenso mit den Tücken des Teppichflors zu kämpfen hatte, sichtlich bemüht, ihren grazilen Handgepäckkoffer über die Schwelle ihres Zimmers zu hieven.
„Can I help you?“ – instinktiv erwachte der Gentleman in ihm. Doch gefühlt bereits einen Atemzug später die ernüchternde Antwort: „No, thanks! I’m fine!“, gefolgt von einem lauten Knall, mit dem ihre Zimmertür ins Schloss fiel.
Ein kurzer Moment der Irritation. Bei Oscár prägte sich ein, dass die olfaktorische Spur von einer äußerst attraktiven Frau stammen musste. Jedenfalls soweit er es nach dem knapp sitzenden apricotfarbenen Pullover beurteilen konnte, aus dem sich unterhalb der glatten blonden Haare zwei zierliche Schulterblätter hervorwölbten. Irgendwann würde er bestimmt nach dem zugehörigen Gesicht Ausschau halten.
Es waren nur noch wenige Schritte, bis er sein Zimmer erreichte, hinter dessen Tür die Erholung beginnen sollte. Endlich, denn seit dem letzten Weckruf in Singapur war er schon über 30 Stunden auf den Beinen. Mit dem Klick nach dem Einstecken der Checkkarte eröffnete sich ihm eine milde spätmorgendliche Atmosphäre:
Ohne dass er alle Einzelheiten sogleich erfasste, nahm er das weiträumige Panorama, das die Szenerie bot, und den Sandelduft der Hölzer wahr. Aus einem versteckten Lautsprecher erklang eine Zen-Meditationsmusik, die ihm auf dem für seine Begriffe überdimensionierten Bildschirm als Breath of live von Gavin Luke angezeigt wurde. Inmitten dieser Szene machte Oscár es sich auf dem breiten Bett bequem. Erst jetzt, mit dem Ausstrecken der Arme und Beine, spürte er, wie seine Lebensgeister Schritt für Schritt wieder Gnade mit ihm zeigten. Seine Gedanken gingen dahin, wie er hierher, an diesen so entlegenen Platz des Universums, gekommen war:
* Noch keine drei Wochen waren es her gewesen, dass er in Kalifornien mit der Unterschrift unter einen Hals über Kopf abgeschlossenen Vertrag den letzten großen Teil seines Berufslebens zum Abschluss gebracht hatte. Durch eine Vereinbarung, mit der unter anderem sämtliches Know-how des von ihm selbst aufgebauten und über Jahrzehnte eigenhändig geführten Unternehmens auf eine Firma namens Applied Remanence Inc. mit Sitz in Stanford übergehen würde. Welch ein Schritt! Sein ganzes Berufsleben hatte er dem Magnetismus gewidmet, um jede mathematische Berechnung gerungen, jede Legierung der magnetischen Werkstoffe eigenhändig entwickelt und getestet, jeden Kunden persönlich von der besonderen Qualität seiner Magnete überzeugt. Denn diese bestanden inzwischen fast ausschließlich aus einer erst in den achtziger Jahren entdeckten neuartigen Legierung, auf deren Technologie er sich von Anfang seiner Berufstätigkeit an konzentriert hatte.
Zu Beginn seiner Selbstständigkeit war er froh gewesen, wenn am Jahresende noch ein paar kleine schwarze Zahlen in der Bilanz erschienen. Aber schon damals hätte er diese erfüllende Tätigkeit um keinen Preis der Welt gegen eine andere tauschen wollen. Im Laufe der Zeit war er zu einem erfahrenen Spezialisten von Magneten für den Einsatz in der Automobilindustrie geworden und hatte damit seine Berufung gefunden. In den letzten Jahren boomte sein Geschäft wie verrückt. Das hing mit den erweiterten Absatzmärkten in Fernost und Lateinamerika zusammen, die er sich über lange Jahre durch seine vielen Reisen mühsam erschlossen hatte und mit einem neuen Einsatzgebiet für seine Magnete: Mobilfunkgeräte.
Und jetzt hatte man ihm innerhalb von wenigen Tagen sein Kind für eine Unsumme von Dollars aus den Händen gerissen. Weil der Lautsprecher in der nächsten Smartphone-Generation genau das Material mit der von ihm entwickelten Zusammensetzung benötigte. Ein Zufallstreffer, mit dem sein Produkt allen anderen Konkurrenzmaterialien überlegen war! Wie gut, dass er die Legierungszusammensetzung und die Berechnungen bislang noch keinem anderen Kunden gezeigt hatte, als das Angebot aus Stanford kam. Zwar hatte er sich schon häufig Gedanken über ein entspanntes Leben im Alter mit seiner langjährigen Ehefrau Olivia und dem gemeinsamen Freundeskreis gemacht.
Aber nie war es konkret geworden, sich tatsächlich von seinem Lebensinhalt Magnetwerkstoffe zu lösen – bis zu diesem günstigen Moment. Den wollte er jetzt nutzen, da die Winde durch den enormen Boom von modernen Smartphones günstig standen. Viel Zeit zur Überlegung, wie sich alles im Einzelnen gestalten ließe, hatte er nicht. Nicht einmal mehr als die wenigen Minuten, um Olivia vor vollendete Tatsachen zu stellen. Er war gewohnt, geschäftliche Entscheidungen immer alleine zu treffen, so auch diese. Ohne dass er sich viele Gedanken gemacht hatte, ob sich daraus Konsequenzen für sein Privatleben ergeben würden. Es wird sich schon alles zeigen, wenn es so weit ist!, war seine Devise, wenn er über sein Leben nach dem Beruf nachdachte. Dass er, als alles so plötzlich kam, ein anhaltendes Grummeln in seinem Bauch vernahm, beschäftigte ihn nicht weiter. Schließlich galt es jetzt, den kairós, den günstigen Augenblick, zu nutzen. So viel hatte er aus seiner Schulzeit am humanistischen Gymnasium in Freiburg noch in Erinnerung behalten: Man muss eine Gelegenheit beim Schopfe packen, da eine solche Chance möglicher Weise nie wiederkommt. Auch wenn dies einen Abschied von einer mit so großer Leidenschaft verfolgten Tätigkeit bedeutet”….
Hören Sie hier weiter in das Buch hinein
(aus Kap. 16, in dem Oscár, gerade auf den Lofoten angekommen, mit dem Schweizer Campingplatzwart Beat zusammentrifft)
“Beat hatte – so viel erfuhr er bereits bei der Begrüßung – vor mehr als zehn Jahren sein Goldschmiedeatelier in Interlaken an einen, wie er sagte, „würdigen Nachfolger“ übergeben und lebte seitdem in dem kleinen Ort auf den Lofoten. Im Sommer verdiente er seinen Lebensunterhalt durch die zahlreichen Besucher aus aller Herren Länder, die mit ihren zumeist luxuriös ausgestatteten Wohnmobilen ein paar Tage auf seinem Platz verbrachten – häufig auf der Durchreise zum Nordkap, das allerdings noch fast 1000 Kilometer Fahrstrecke entfernt lag. Schon erstaunlich, fand Oscár, das ist noch deutlich mehr als die Strecke, die ich selbst in den beiden letzten Tagen von Trondheim aus zurückgelegt habe.
Mit vielen seiner Gäste blieb Beat übers Jahr in Kontakt, davon zehrte er vor allem über die langen einsamen Wintermonate. Eine gute Datenverbindung in seiner ansonsten sehr bescheidenen Behausung war daher wichtig. Abgesehen
davon lebte er von den Lüften des Nordens, den Polarlichtern und von seinem Mini-Atelier auf der Rückseite seiner kleinen Hütte, in der er ab und an Schmuckstücke anfertigte. Die verkaufte er nur ungern, weil ihm jedes einzelne in der Einsamkeit ans Herz gewachsen war. Beat war anzumerken, dass er sich über die Zeit mit dem Zustand des Alleinseins abgefunden hatte, denn anfangs waren es nur sehr karge Antworten, die er Oscár gab, bei dem seinerseits die Worte übersprudelten, nachdem er schon so viele Tage mit keiner Menschenseele mehr gesprochen hatte.
Dann der Abend, an dem eine Balance in das Gespräch zwischen den beiden kam: Es war angenehm warm in Oscárs Camper, er hatte die Standheizung nach anfänglichen Schwierigkeiten aufgepäppelt. Kleine Reste des Nordlichtes schimmerten durch die Scheiben, die mehr und mehr beschlugen. Eine Folge der inzwischen zweiten Rotweinflasche, die Oscár zu diesem Anlass aus seiner eisernen Reserve befreit hatte.
„Was machst du denn so?“, fragte Oscár neugierig, um mehr über Beat zu erfahren.
„Nichts!“
„Einfach nichts?“ Schwer vorstellbar für Oscar, der sein ganzes Leben gewohnt war, einen festen Tagesablauf, eine vorbestimmte Struktur und immer neue Aufgaben – er nannte sie Herausforderungen – zu haben”…