Über die Sammlung Alexander Schippan (von Ralph Schippan)

„Wir verdanken dem Bücherdruck und der Freiheit desselben undenkbares Gute und einen unübersehbaren Nutzen; aber noch einen schöneren Nutzen, der zugleich mit der größten Zufriedenheit verknüpft ist, danken wir dem lebendigen Umgang mit unterrichteten Menschen und der Freimütigkeit dieses Umgangs“

Dies schreibt Goethe in Dichtung und Wahrheit. Zufriedenheit vermittelnde Eindrücke eröffnen sich auch mir, wenn ich in meiner Bibliothek bin.  Sie ist mein Arbeitsplatz, zugleich ein Refugium des Andenkens an meine Vorfahren, besonders an meinen Großvater Alexander Schippan, der die Sammlung vor  100 Jahren begründet hat.

Die Sammlung widmet sich dem Bücherdruck zur Zeit Goethes. Sie ist eine Dokumentation systematischen und bibliophil orientierten Büchersammelns. Weniger die quantitative Fülle von etwa 2000 Werken ist ihre Besonderheit, sondern vielmehr die Schönheit der Exemplare, auf die der Begründer stets größten Wert gelegt hat. Dr. Alexander Schippan, geboren 1899, studierte Volkswirtschaft in Köln und war Tuchfabrikant in Aachen. Seine große Leidenschaft für das Schöne Buch machte ihn nicht nur zum Sammler sondern führte ihn auch dazu, ehrenamtlich viele Jahre im Vorstand der Gesellschaft der Bibliophilen tätig zu sein. Meinen Großvater trieb die nicht bescheidene Vision um, von den Erstausgaben der deutschen Literatur die hinsichtlich ihrer buchästhetischen Gestaltung sowie ihres Erhaltungszustandes besonders ansprechenden Exemplare zu besitzen, darin eingeschlossen vor allem die bekannten Rara und Rarissima der Deutschen Literatur.

Bereits in den Dreißiger Jahren gelangten über Auktionszuschläge oder Ankäufe wertvolle Drucke in seinen Besitz: von Goethe seine Thesen positiones iuris von 1771, die ihm den Doktorgrad einbrachten, Das Römische Carneval mit unbeschnittenem Textteil und sämtlichen kolorierten Kupferstichen von G. M. Kraus nach J. G. Schütz. Selten ist auch der Privatdruck auf Velinpapier, der eigens für die Festteilnehmer des Weimarer Maskenzugs von 1818 gedruckt wurde. Unser Exemplar trägt die eigenhändige Widmung Goethes an die Herzogin Friderike von Kumberland. Sie wohnte 1764 anlässlich der Kaiserkrönung Josephs II. mit ihrer Schwester, der späteren Königin Luise von Preußen, im Frankfurter Hirschgraben und traf mit Goethe häufig in den böhmischen Bädern zusammen .

Friedrich Schillers Dissertation Versuch über den Zusammenhang der tierischen Natur des Menschen mit seiner geistigen von 1780, wurde seinerzeit von der Fachwelt – Schillers Promotionsfach war die Medizin – scharf wegen seiner „poetischen Diktion“ kritisiert; zeitgleich arbeitete er schon an seinen Räubern.

Besonders schöne Exemplare stammten aus dem Nachlass des Aachener Sammlergefährten Franz G. Messow . Weitere Erwerbungen konnten folgen, nicht zuletzt durch enge, langjährig gepflegte Kontakte zu den bekannten Antiquaren dieser Zeit. Unter den Werken finden sich viele von bedeutender Provenienz, wie der des Germanisten Erich Schmidt oder des Namensgebers der Albertina in Wien, Herzog Albert von Sachsen Teschen. Es konnte durch eine zeitweilige Unterbringung im Aachener Stadtarchiv gelingen, den größten Teil der angesammelten Bücherschätze nahezu unbeschadet über den Zweiten Weltkrieg zu retten.

Vor allem bei den großen Nachkriegs-Versteigerungen der Sammlungen Starhemberg, Eybesfeld und Erdmann wurden meinem Großvater weitere herrliche Exemplare zugeschlagen. Im Laufe seiner 50- jährigen Sammeltätigkeit konnte er auf diese Weise seine Bücherwelt stetig ergänzen und stellte wenige Monate vor seinem Tod (1975) befriedigt fest:

„Meiner ganzen Sammlung liegt die Idee zugrunde, dass die Zeit um Goethe in der deutschen Literatur die wichtigste Epoche ist. Infolgedessen war mein Bestreben, diese Zeit möglichst in den  Originaleinbänden und in bester Erhaltung zu sammeln. Vollständigkeit ist nicht so wichtig wie das Fluidum, das aus einem zu Lebzeiten des Verfassers gedruckten Buche hervorgeht. Dazu kommt noch die hervorragende Provenienz mancher Bände.“

Das Symbol für den Geist unserer Sammlung ist ein kleines Gipsrelief von Leonhard Posch, das Goethe im Profil darstellt. Der Bildhauer und Modelleur Leonhard Posch (1750-1831) schuf es in Weimar “ad vitam”, wie aus Tagebucheintragungen zu entnehmen ist: Am 25. Februar 1827 schreibt nämlich Karl August an Goethe: „Posch, der bekannte Modellierer…Halte ihm dein halbes Haupt willig dar und siehe Freude bringend dazu aus!“ und Goethe vermerkt noch am selben Tag: “Nachher der Modelleur Posch. Sodann Serenissimus die Arbeit inspizierend.” Und zwei Tage später, am 27. Februar 1827 “Hr. Posch, einiges an meinem Profil nachholend.”

Wenn auch die Erstausgaben Goethes und Schillers den Kern der Sammlung bilden, so sind die Werke der späten Aufklärungszeit, der Epoche des Sturm und Drang sowie der Romantik ebenfalls substantielle Bestandteile. Unter den Erstlingswerken ragen zwei Titel heraus: Heinrich von Kleists Die Familie Schroffenstein in einem Einband der Zeit mit dem Besitzvermerk des Germanisten Erich Schmidt und Achim von Arnims Versuch einer Theorie der elektrischen Erscheinungen in einem Exemplar, das eine handschriftliche Widmung Arnims an seinen Lehrer Ludwig Wilhelm Gilbert in Halle trägt. Diese Schrift stammt noch aus Arnims naturwissenschaftlich geprägter frühen Schaffensphase . Von Clemens Brentano stammen die Gedichte Phantasien, Guitarre und Lied und das Märchenfragment Die Rose, die sich unter dem Pseudonym Maria in der von August Klingemann 1800 herausgegebenen Zeitschrift Memnon finden. Neben unserem Exemplar kennt man nur noch zwei weitere.

Nicht nur das Werk Sturm und Drang von Friedrich Maximilian Klinger, das der Epoche ihren Namen gab, sondern auch viele überaus seltene Erstdrucke von Jakob M. R. Lenz verleihen dem Sammlungsprofil einen besonderen Akzent: Zu verweisen ist auf das unbeschnittene Exemplar des Einzeldrucks Petrarch. Ein Gedicht aus seinen Liedern gezogen mit den vier Seiten Anzeigen, welches in sehr kleiner Auflage auf stärkerem Papier gedruckt wurde. Die Vertheidigung des Herrn W. gegen die Wolken von dem Verfasser der Wolken zählt zu den großen Kuriositäten der Deutschen Literatur. Ursprünglich wollte Lenz eine gegen Wieland gerichtete Satire (Die Wolken nach dem Stoff von Aristophanes) erscheinen lassen, entschied sich dann aber aufgrund der Intervention Lavaters, nur einen entschärften Nachtrag erscheinen zu lassen. Auf diesen bezieht sich der Verleger Boie in seiner Nachricht des Verlegers auf der Titelrückseite dieses Werkes, von dem bereits im Jahre 1884 nur noch vier Exemplare bekannt waren.

Auch bei den Gesamtausgaben legt die Sammlung Wert auf Besonderes: Der sogenannte “Fürsten-Wieland” mit dessen Sämmtlichen Werken in 36 Bänden und 6 Supplementbänden als Quart-Ausgabe letzter Hand auf besserem Papier trägt das Wappen der Sammlung Oettingen-Wallerstein. Von der vollständigen Ausgabe aller 22 Bände der von Wilhelm Grimm 1839 – 1856 herausgegeben ersten Gesamtauflage von Achim von Arnims sämmtlichen Werken ist hier ebenso zu berichten wie von Henrik Steffens´ zehnbändigem autobiographischen Werk Was ich erlebte. Aus der Erinnerung niedergeschrieben in grünem Halbmaroquin. Eine gehaltvolle Quelle für die Erforschung des Geisteslebens zur Zeit der Romantik.

Schließlich zu den Märchen: Der Erstdruck der Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm von 1812/1815 liegt in einem sehr gut erhaltenen Pappband von Ende des 19. Jahrhunderts vor, das Exemplar aus der Schlossbibliothek Tetschen. Es wurde entsprechend den mit dem zweiten Band ausgelieferten Hinweisen an den Buchbinder gebunden: unter anderem wurde in Band I das Blatt mit den Seiten 387/388 ersetzt, so dass das im Erstdruck 1812 noch fehlende Märchen Nr. 86. Der Fuchs und die Gänse den Schluss der Sammlung bildet. Demgegenüber enthält das zum Weltdokumentenerbe der UNESCO deklarierte Kasseler Exemplar mit den handschriftlichen Anmerkungen der Brüder Grimm im ersten Band den Text Das gute Pflaster. Contessas Kindermärchen mit den von E. T. A. Hoffmann entworfenen Titel- und Schlussvignetten galten bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts als verschollen. Erst der Berliner Antiquar Martin Breslauer entdeckte wenige Restexemplare im Archiv des Verlags Reimer, die dann in den Handel kamen.

Kehren wir noch einmal zu Goethe zurück: Ob er ein Bibliophiler nach heutigem Verständnis war, ist fraglich, schreibt er doch in Wilhelm Meisters Wanderjahren: „Ein schöner Druck gefällt wohl, aber wer wird ein Buch des Druckes wegen in die Hand nehmen“. Jedenfalls war Goethe Bibliothekar in Weimar und stand insoweit auch mit den Buchbindern seiner Zeit im Austausch. In unserer Sammlung liegt ein Exemplar aus dem Jahr 1830 vor, dessen Buchgestaltung Goethe selbst in Auftrag gab, vermutlich beim Buchbinder Carl Lehmann in Berlin. Es ist ein Exemplar von Thomas Carlyles Leben Schillers, aus dem Englischen, eingeleitet durch Goethe in einem dunkelgrünen Lederband der Zeit, mit einem großen rechteckigen, beigefarbenem Mittelstück mit reicher Blindprägung, Rückenvergoldung, Steh- und Innenkantenvergoldung, Moirévorsätzen und Goldschnitt. Nach einer Eintragung auf dem Vorblatt, datiert 1. August 1831, wurde dieses Exemplar von Goethe an Mrs. Carlyle verschenkt. In dem Brief Goethes vom 15. Juni 1831, der sein Geschenk begleitete, heißt es: “Auch liegt ein Exemplar von dem übersetzten Leben Schillers bey, der Freundin gewidmet, damit sie erfahre, wie sich auch die Buchbinder des Continents aller Genauigkeit und Anmuth befleißigen”. Ein eindrucksvolles, wenngleich höchst seltenes Beispiel für hochqualitative Einbandkunst in Deutschland zu dieser Zeit. Aber insoweit eine für unsere Sammlung typische Rarität.

Unsere Bücherwelt ist ein lebendiger alltäglicher Raum für das Hier und Jetzt in Anwesenheit der großen Zeugen der Deutschen Literatur. Ich werde nicht selten gefragt, ob ich die Werke alle gelesen habe: meine Antwort besteht dann aus dem meinem Großvater zugeschriebenen Zitat „Lesen fördert den Geist – aber schadet dem Buch“. Er hatte seine Präferenz eindeutig auf das Buch als ästhetisch gestalteten Kunstgegenstand gelegt. Schönes und Seltenes sollte im Verborgenen blühen. Lesen sollte in einer preiswerten Ausgabe geschehen.

Dass die Bibliothek meines Großvaters von mir fortgeführt werden konnte, ging zurück auf den Rat des mit der Familie seit Jahrzehnten verbundenen Kölner Auktionators Rolf Venator. Ganz gegen seine Geschäftsinteressen empfahl er, den Sammlungsbestand nicht durch eine Auktion zu zerstreuen, sondern aufgrund ihrer für eine Privatsammlung einzigartigen Geschlossenheit in einer jüngeren Hand der Familie zu bewahren. Mein schon in der Jugendzeit entstandener Wunschtraum, einmal in die von meinem Großvater wie seinen Augapfel behütete Bücherwelt eintauchen zu können, wurde so für mich mit knapp 40 Jahren Wirklichkeit.

Seitdem reift bei mir die Erkenntnis, dass eine behutsame Öffnung der Sammlung ein wichtiges Moment ist, um den in den Regalen ruhenden Drucken Leben einzuhauchen. Über Ausleihung von wertvollen Ausgaben von Jacob und Wilhelm Grimm, unter anderem der Kinder- und Hausmärchen anlässlich der Hessischen Landesausstellung 2013 sammelte ich als Leihgeber Erfahrungen und erfreuliche Resonanzen .

Der Anspruch, das schön gestaltete Buch als Kulturträger und gleichzeitig als Lesemedium zu vermitteln, lag auch einer Ausstellung im Schloss Jägerhof der Stadt Düsseldorf zugrunde, dessen Goethemuseum der Hort der berühmten Privatsammlung von Anton und Katharina Kippenberg ist. Diese Schau habe ich selbst kuratiert, ausgestattet ausschließlich mit Erstausgaben der Frühromantik aus unserer Sammlung. Diesen Weg des offenen Austauschs mit Gleichgesinnten möchte ich beibehalten, um die Freude an der Welt des „Schönen Buches“ weiterzugeben.